In Mauretanien nennt man ihn einfach le train. Die Locals sprechen halb ehrfürchtig, halb amüsiert von ihm. Im ganzen Land scheinen die Menschen fasziniert von dem Unbekannten, dieser Technik, den vier amerikanischen Diesellokomotiven. 2425 kW Leistung pro Lokomotive. Das sind zehn Mercedes S-Klassen. Oder 3300 Pferde. Pro Lokomotive! Und wofür diese ganze Kraft? Für das Erlebnis, sagt der Tourist. Für den Transport der Ziegen, sagt ein pragmatisch denkender Einwohner von Choum. Für unsere Exportwirtschaft, sagt die Regierung. Wenn der Zug oft auch nicht ganz verstanden wird, so wird er doch akzeptiert. In gewisser Weise ist er Routine in einem Land, das sich selbst versorgt. Die arabischen Berber brachten Kamele und den Islam, die Franzosen Croissants und le train. Nichts ist verloren gegangen, alles ist Teil der Gesellschaft geworden.
Die staatliche Eisenerzbahn fährt dreimal täglich von den Minen in M´Haoudat im Norden des Landes ins 700 km entfernte Nouadhibou – und zurück. Von der Wüste an die Küste, dabei 695 km durch Mauretanien und ganze 5 km durch Gebiet Westsaharas. Es ist der einzige Zug, den sie haben. Und er reicht auch, schließlich ist er der längste Zug der Welt. Jedenfalls nach dem BHP Iron Ore Train in Australien. Oder der Ore Export Line in Südafrika. Oder, oder, oder. Na ja, wenigstens fährt er täglich. Ganz offiziell also ist le train der längste regelmäßig fahrende Zug der Welt. 200 Wagons, 2500 Meter Länge, 17000 Tonnen Gewicht und 16,5 Millionen Tonnen transportiertes Eisenerz pro Jahr. Und das Beste: Nur ein einziger Personenwagon. Doch keine Sorge. Plätze finden sich auf (!) dem Zug genug. Statt dicht gedrängt in dünner Luft auf Holzbänken sitzend, gibt es 199 kostenlose Freiluft-Alternativen für die 12-Stunden-Fahrt. Hier kommt wirklich jeder zum Zuge. Und das auch noch legal.
Die Verheißung eines Abenteuers lässt Begeisterung aufkommen. Doch wo Abenteuer, da auch Gefahr. Stellen wir uns das vor: Man reist in ein fremdes Land inmitten der Sahelzone. Kennt niemanden, der je dort war, geschweige denn die Sprache oder Kultur. Und dann kauft man sich Hauli (mauretanischer Turban), Matratze, Maske, Taucherbrille und de-facto-Einwegkleidung und fährt mitten in die Wüste. Genauer gesagt nach Choum - ein Dorf so ereignisreich wie ein achttägiger Informatik-Lehrgang für PC-Laien. Dort wartet man dann auf dieses Ungetüm, das gut und gerne 6 Stunden zu spät kommt. Wüste, Staub, Trostlosigkeit. Doch dann bebt die Erde, aus der Ferne ertönt ein Pfeifen und die ganze Welt setzt sich in Bewegung – so scheint es. Alle hasten und laufen, Lichter und Lärm, der Zug ist in seiner ganzen Größe in der Nacht nicht zu erfassen. Nichts an ihm wirkt einladend, doch die pilgernden Menschen schaffen Vertrauen. Gepäckwurf in die Höhe, einmal gelandet ist es für eine Umkehr zu spät. Jetzt muss es schnell gehen, der Zug kann jederzeit losfahren. Sieben Sprossen gilt es zu erklimmen. Endlich geschafft. Ein Platz im Paradies, die dreckige Erlösung. Und dann fahren sie, die 13200 amerikanischen Pferde. Es ist laut und ruckelig, das staubige Eisenerz weht einem ins Gesicht. Ohne die Maske dürfte es sich am nächsten Tag anfühlen wie 30 Jahre unter Tage. Nach wenigen Minuten schon realisiert man, dass es kein Entrinnen gibt, dass dieser Wagon Nr. 116 nun für einen halben Tag das eigene Schicksal sein wird. Und es ist… beruhigend. Alte Frau ist ja kein D-Zug. Mit durchschnittlich 55 km/h fährt es sich auf dem kühlen Erzpulver recht angenehm. Stunde um Stunde, jedenfalls bis man mal muss. Doch auch das kriegt man geregelt.
Und noch während der Fahrt, mit dem Blick Richtung Sternenzelt, denkt man an die Ankunft im mittagsheißen Nouadhibou. Alles Routine. Die Fracht wird am Hafen entladen, in Container gepresst und nach Amerika, Frankreich oder China verschifft. Und die menschliche Ladung? Dusche statt Atlantik. Schließlich möchte man nicht für den Rest des Lebens aussehen wie Lawrence von Arabien als Schornsteinfeger. Oder sollte man darüber anders denken? Die Minen von M´Haoudat werden schließlich eines Tages kein Erz mehr fördern. Vielleicht wird es dann immer noch Kamele, Croissants und Sanddünen in Mauretanien geben. Und mit viel Glück werden hier sogar noch Züge fahren. Aber nicht le train. Und wenn erst vier amerikanische Dieselloks in Nouadhibous Eisenerz-Museum stehen, wird die Welt eine andere sein. Exhibition statt experience. Und wir werden nur noch Geschichten erzählen können - von Ziegen, Schornsteinfegern und dem Himmel über der Sahara. Doch bis dahin gilt: Dreckig werden solange es noch geht!